3. Oktober 2017

Lydia Conradi. Für Toleranz und Weltoffenheit.

Foto © Lydia Conradi

"Wir sind so tollkühn. Wir sind übergeschnappt. Aber wenn wir uns aus den Trümmern des Krieges, der unsere Welt zerschmettert hat, herauskämpfen wollen, müssen wir genau so sein. Wir können nicht aufbauen, was zerstört ist. Wir müssen neue Wege gehen."
Lydia Conradi- Das Haus der Granatäpfel, S.594.


Gestern erschien unter dem Pseudonym Lydia Conradi ein neuer bemerkenswerter Roman der deutschen Schriftstellerin Charlotte Roth. Das Haus der Granatäpfel heißt das Buch, das uns ins das orientalische Smyrna um das Jahr 1912 entführt. Als die Berlinerin Clara an die Metropole am Ägäischen Meer reist, um dort den Peter Delacloche, den Sohn eines Kaufhausmagnanten, zu heiraten, ist sie sofort hingerissen von der Stadt. Nicht jedoch von dem jungen Mann an ihrer Seite, der ihren Hunger nach dem Leben nicht stillen kann. Schon sehr bald verliert Clara ihr Herz an Sevan, den Arzt der Familie, der jedoch auch gebunden ist. Und als der 1. Weltkrieg seine Schatten auf das Granatapfelhaus wirft, steht nicht nur den Liebenden schwierige Zeiten bevor. Das Haus der Granatäpfel ist in keinster Weise ein seichter Liebesroman, sondern ein Plädoyer für Weltoffenheit und Toleranz, was in unserer Zeit doch immer wichtiger zu werden scheint. Dieses Buch hat mich zu Tränen gerührt und etwas in mir bewegt. Trotz aller Melancholie und den Schrecken des Krieges, eine Liebeserklärung an die Vielfalt und Farbigkeit des Lebens über Ländergrenzen und Völker hinweg.

Ich weiß, dass du vor dem Schreiben immer sehr ausgiebig recherchierst. Wie ging es dir mit Izmir/ Smyrna? Hat die Stadt dir ihre Geschichte erzählt? Hast du nach bestimmten Dingen gesucht?
Auf Smyrna bin ich gestoßen, weil ich einen Roman über Bagdad, Aleppo oder Damaskus schreiben wollte, über diese großen uralten Vielvölkerzentren, die von der Welt verschwinden und deren Geschichte nicht oft genug erzählt werden kann, stieß damit in der Verlagswelt aber zunächst auf Widerstand. In meinem Hinterkopf war ein Da-war-doch-was-Gefühl, ich hatte Eugenides’ „Middlesex“ gelesen und irgendwann begann ich, gezielt nach Berichten über Smyrna zu suchen. Sobald mir die Geschichte bewusst war, wollte ich sie um jeden Preis schreiben. Wir sind also schon mit der Geschichte im Kopf zum ersten Mal nach Izmir gefahren, aber Izmir erzählt tausend Geschichten. Man muss ein bisschen an der Oberfläche stochern, um die Spuren ihrer Vergangenheit zu finden, aber dann sind sie überall, und mit jeder Reise hat das Mosaik neue Teile bekommen.

Yellow Church, Izmir. Foto © Lydia Conradi
Das Na Evi, das Granatapfelhaus, ist nicht nur für Clara ihr Rückzugsort und ihr Lichtblick, für die ganze Familie und auch für mich als Leser war dieser Ort wahnsinnig wichtig! Da wusste ich: Hier ist irgendwie doch alles gut. Möchtest du uns etwas über diesen besonderen Ort erzählen? 
Mich haben diese zum Teil auf Stelzen bewohnten Häuser der reichen Levantiner unglaublich fasziniert, diese weltabgeschiedenen Inseln der Seligen, in denen die Welt mit ihren Konflikten über lange Zeit so gut wie keinen Zutritt hatten. Die Levantinerfamilien von Smyrna waren riesig – eine der führenden Matriarchinnen hatte mehr als hundert Urenkel. Sie residierten in diesen Häusern wie in kleinen Palästen, feierten unentwegt Parties, luden sich gegenseitig ein – bis kurz vor dem Ende. Es ist atemberaubend, ihre Briefe zu lesen, ihre Beteuerungen, man werde bleiben, auch wenn andere abgereist seien, in die Oper gehen,  Familie XYZ zur Verlobung des Sohnes seine Aufwartung machen, die Lage werde sich schon beruhigen, es werde alles so schlimm nicht werden. Tatsächlich ist es ja dem großartigen, völlig zu Unrecht vergessenen Gouverneur von Smyrna Rahmi Bey gelungen, seine Stadt über viele  Jahre vor dem Schlimmsten zu schützen. Das Nar Evi ist für mich ein Smyrna im Kleinen, ein vor Gefahr abgeschirmtes Idyll, das zu spät bemerkt, dass alles verloren ist.
Izmir, Foto © Lydia Conradi
Ich empfinde Das Haus der Granatäpfel als sehr tolerant, vor allem der Islam wird in einer Weise dargestellt, die ich gut nachvollziehen kann. Und dann ist da in Smyrna das Aufeinandertreffen zahlreicher Völker. Wie ging es dir beim Schreiben damit, eine Darstellung zu finden, die dieser Vielfalt gerecht wird und vor allem ohne Wertung?
Vielen Dank. Wenn das gelungen ist, freut es mich sehr, denn das war mein Anliegen. Ich fand es ganz einfach, denn ich habe mich ja in diese Vielfalt, dieses Vielvölkergewebe, verliebt. Es war Smyrnas Reichtum, ihr Wesensmerkmal, wie es für mehrere Städte des einstigen osmanischen Reiches – namentlich Bagdad, Aleppo, Cairo, Damaskus – gilt. Daraus, dass dieser Welt meine Liebe gilt, mache ich ja keinen Hehl. In diesem Sommer war ich mehrere Wochen in Jordanien und muss Amman – die Stadt der brüderlichen Liebe – unbedingt in meine Liste aufnehmen.

Mosque & Market, Izmir. Foto © Lydia Conradi
Allein die Familie Delacloche, in die Clara einheiratet, hat französische und griechische Wurzeln und muss sich irgendwo positionieren. Allein schon die Bezeichnung einzelner Orte, ob nun griechisch oder türkisch, kann in dem Haushalt zu großen Streitigkeiten führen. Möchtest du deinen Lesern einen kurzen Überblick über das Zusammenspiel von Griechen, Türken, Armenier und Levitaner in Smyrna geben?
Zu viel möchte ich dazu nicht sagen – zum einen weil es schwammig und ungenau würde, das in Kürze wiederzugeben (und so etwas finde ich immer gefährlich, weil es zu Missverständnissen und Vorurteilen führt), zum andern weil ich ja darüber versucht habe, mein Buch zu schreiben. Sagen lässt sich, denke ich, dass das Millet-System des osmanischen Reiches, das die unterschiedlichen Völker über ihre Religion organisierte, jahrhundertelang leidlich funktionierte (schon das ist mir eigentlich zu ungenau – damit möchte ich keinesfalls gesagt haben, dass es keine Konflikte gab!), dass es dem Zusammenleben förderlich war und die Kulturen sich gegenseitig befruchteten und austauschten. In Smyrna selbst gab es – wie in vielen osmanischen Städten - zu den genannten Kulturen auch noch ein lebhaftes, blühendes jüdisches Zentrum (bis heute gibt es in Izmir sieben Synagogen, von denen aber nur noch zwei in Betrieb sind). Grundsätzlich verkehrten Levantiner freundschaftlich und familiär mit  Griechen und Armeniern, sofern diese derselben gesellschaftlichen Schicht angehörten, obwohl sie unterschiedlichen Millets entstammten (das Millet-System war zu dieser Zeit nicht mehr offiziell in Gebrauch, prägte das Leben aber weiterhin).  Zwischen jüdischen und muslimischen Einwohnern und orthodoxen oder katholischen Christen (Anglikaner und Protestanten gab es auch, jedoch in geringerer Zahl) kamen Heiraten eher nicht vor, man verkehrte aber geschäftlich. Das religiöse Leben der Stadt hatte sich gut eingespielt: So stellten christliche Restaurants beispielsweise während des Ramadan ihre Tische nicht nach draußen, damit muslimische Einwohner niemandem beim Essen zusehen mussten usw. Über das Smyrna der Jahrhundertwende lässt sich – ganz grob – sagen, dass Konflikte zwischen Christen und Muslimen sich in Grenzen hielten und nicht religiösen Ursprungs waren, sondern zu schwelen begannen, weil die Lebensbedingungen der meisten Muslime so viel schlechter waren.

Gustav Eiffel Pier, Izmir. Foto © Lydia Conradi
Die Liebe von Clara und dem Armenier Sevan ist unschuldig und wahnsinnig berührend, entfacht in einer verzweifelten Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Sie sind in dem Buch wohl eine der "Paare" mit der größten Verbindung über Völkerzugehörigkeiten hinweg. Wie wichtig ist dir das?
Ich schreibe über Krieg.  Und ich denke, das geht nicht, ohne über Liebe zu schreiben. Es ist die Schnittstelle, an der wir – wenn der Text geglückt ist – erreichen und berühren können, die Figuren so dicht an den Leser heranbringen, dass sie ihm nicht länger gleichgültig sind. Wer liebt, macht sich verwundbar. Und wer verwundbar ist, ist uns nah.

Gulf of Izmir, Foto © Lydia Conradi
Wenn du den Lesern vom Haus der Granatäpfel noch etwas sagen möchtest, dann hast du jetzt noch die Möglichkeit dazu.
Ich möchte ich dafür bedanken, dass ihr euch auf Smyrna, auf Izmir, auf Gallipoli – auf ein Thema, das so weit abseits liegt und auch belastet, einlasst. Ob der Roman euch für diese kostbare, verlorene Welt gewinnen kann, liegt nun bei mir und wenn ich es in den Sand gesetzt habe, ist es nicht mehr zu ändern. Euch aber danke ich dafür, dass ihr mir und Smyrna die Chance gebt. Ich hoffe, wir haben zusammen eine schöne, weite, zauberhafte Reise.

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Morgen geht es mit Smyrna, dem heutigen Izmir, auf Buchsichten.de weiter!

Mehr zu Lydia Conradi:
instagram: charlottelyne


Ein herzliches Dankeschön an den Piper Verlag für die Organisation der Blogtour zu Das Haus der Granatäpfel und an Lydia Conradi für die geduldige Beantwortung meiner Fragen.

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3 Kommentare

  1. Hallo,

    das ist ja hochinteressant, welche Autorin hinter diesem Pseudonym steht. Bin total überrascht. Der Beitrag ist ja wieder mal hochinteressant und man bekommt immer mehr Lust auf dieses Buch mit seiner aufregenden Geschichte.

    Wünsche einen schönen Abend.
    LG Sonja

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  2. Liebe Aleshanee, vielen lieben Dank für die Info.

    Wünsche dir eine schöne Restwoche.
    LG Sonja

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  3. Guten Morgen!

    Vielen Dank für dieses tolle Interview. Ich bin ganz gebannt von dem faszinierenden Schauplatz der Geschichte und freue mich nun schon ganz besonders, dass Haus der Granatäpfel in der Geschichte kennen zu lernen. :) Die Deine Fragen fand ich wirklich gelungen und auch die Antworten der Autorin waren so schön geschrieben...."Wer liebt, macht sich verwundbar. Und wer verwundbar ist, ist uns nah." - wahre Worte! :)

    Liebste Grüße
    Nina von BookBlossom

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